Montag, 4. März 2013

LEE






Da denkt man an nichts Besonderes, und dann das: Seh ich doch ein Nummernschild, auf dem LEE prangt.

Erinnert mich glatt an meine Kindheit. Wahrscheinlich ist die Kindheit die schönste Zeit des Lebens. Obwohl man sich ja tagtäglich aufs Neue motivieren sollte. Denn vielleicht wird’s ja doch noch mal besser, schöner, wilder, schräger als zu Zwergnasenzeiten. Aber auch da musste man hier und da mit Eigentoren und unliebsamen Überraschungen rechnen. Sei es, wenn einem ein Dartpfeil in den nackten Fuß geworfen wurde, wenn sich der Lenker eines Klappfahrrads ohne vorherige Absprache plötzlich nach unten senkte und man kopfüber mit einem eingesprungenen Rittberger oder wahlweise Doppelaxel auf die Fresse flog. Oder wenn man einfach nur nachts im Flur der Großeltern stand und nicht glauben wollte, was man da zu sehen bekam. Und das kam so.

Die Rollen der Helden waren schnell verteilt. Auf dem heiligen Rasen waren es Netzer, Overath, Bonhof, Flohe, Heynckes und Bruns. Neben dem Fußballplatz war es unter anderem John Wayne. Und es gab auch einen Antihelden: Christopher LEE. Obwohl ich mir damals all seine Dracula-Filme reinzog, hab ich ihn nicht gemocht. Hat sich bis heute auch nicht wesentlich geändert. Vielleicht liegt es daran, dass er mich in meinen Träumen immer heimgesucht hat. Mit seinen tiefen Augen, dieser merkwürdigen Kinnpartie und diesem Umhang. Erfreulicherweise gab es nie ein Happy End für Christopher Lee, da John Wayne ihn ja jede Nacht abgeknallt hat.

Möglicherweise liegt da auch der Grundstein für die Paranoia gegen Dinge, die im Zusammenhang mit Lee stehen. Wie Litamin, Likör und Litschi. Keine Regeln ohne Ausnahmen. Die da wären: Liebe, Literatur und Bruce Lee. Schweif ich ab? Yesssss. Wie jeden Sommer haben wir auch damals die Großeltern mütterlicherseits für ein paar Tage besucht und natürlich auch dort übernachtet. Die Eltern samt Schwester im Gästezimmer und ich durfte im Wohnzimmer das Zweisitzersofa in Beschlag nehmen. Mit all seinen Tücken. Denn ich hab mir jedes Mal die Birne an der Deckenleuchte – bestehend aus fünf schweren Glaskugeln – beim Aufstehen gestoßen, die aus mir heute noch immer unerfindlichen Gründen dermaßen tief hing, dass selbst der Pekinese meiner Tante sich die eingedrückte Nase gestoßen hätte. Wer der Inneneinrichter war? Keine Ahnung, wahrscheinlich das zu lange Kabel der Deckenleuchte.

Als Zwergnase neigte ich dazu, die Räumlichkeiten der Verwandten auszukundschaften. Auch nachts. Also auch in dieser denkwürdigen Nacht. War wieder auf dem Rückweg in mein Nachtlager, als ich eine Gestalt im langen Umhang vor der Wohnzimmertür wahrnahm. Das Licht ging an und ich erkannte fast meine Großmutter. Fast, denn irgendwas war anders. Irgendwas erinnerte mich an meinen Albtraum Christopher Lee. Die Kinnpartie samt fliehendem Kinn. Scheiße, jetzt ist es so weit. Hat sich Dracula in unsere Familie reingebissen und Oma ist die Abgesandte, die mich jetzt vernaschen darf? Na, Glückwunsch.

Aber so schnell gibt eine Zwergnase nicht auf. Nur was soll ich machen, hier im Flur? Zur Rechten die Küche, eine Sackgasse. Zur Linken die Kellertür, hinter der sich wahrscheinlich eine Gruft verbirgt, wo weitere Familienmitglieder, die ich bis dato noch gar nicht kannte, aber gleich mit kleinen Bissen im Hals kennenlernen werde, ihr Unwesen treiben. Im Rücken meine Eltern samt Schwester, die ihre Hanni-und-Nanni-Geschichten träumt oder gar lebt. Sollte ich einfach reinstürmen und sagen: Hallo, ich bin’s, euer Sohn, war gerade schon mal hier. Übrigens, im Flur steht jemand, so groß wie ein Kühlschrank, vor sich hinnuschelnd, sieht aus wie Oma, könnte aber auch ein Vampir sein. Was soll ich tun? Narkolepsie vortäuschen und einfach umfallen? Das wäre sicher ein gefundenes Fressen für Oma Dracula. Oder Oma wie eine Fahnenstange, einen Gegner umspielen und ab ins Wohnzimmer?

Sollte ich der Erste sein, der seinen Hals mit zwei Löchern zieren darf? Das Glückskind, das bei jedem Essen oder Kaffeeklatsch ein Glas oder eine Tasse umwarf sowie fast alle Fensterscheiben bei Verwandten und Bekannten unglücklicherweise zertreten und als Krönung durch eine Glastür gehen durfte. Da war von Copperfield noch nicht die Rede, und Siggi und Roy waren auch erst in den Startlöchern.

Scheiße rollt nach unten, wie wir wissen. Schöne Scheiße. Und davon hatte ich früher mehr als genug am Hals und am Fuß. Immer Hans guck in die Luft und ständig in Kaugummi oder Scheiße getreten. Ärgerlich, wenn man Udo Lattek Advantage, Dietrich Weise Universal von Puma oder Special Turf von Adidas trug. Dann konnte man jeden Abend mit Streichhölzern den Dreck aus den Noppen kratzen. Schweif schon wieder ab.

Nach einer nuschelnden Schrecksekunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, verschwand Oma im Bad und kam kurze Zeit und eine Klospülung später mit einem strahlenden Gebiss zurück. Kurzes Drücken und über den Kopf streicheln und schon ging’s ab in die Falle mit dem obligatorischen Kopfstoß an die tief hängende Deckenleuchte.

So viel Besonderes zu LEE.




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