Samstag, 29. Juni 2013

TÜTE






Da denkt man an nichts Berauschendes, und dann das: Seh ich doch ein Nummernschild, auf dem TÜTE prangt.

Vor einigen Jahren hatte ich mal was an der Bandscheibe, wie es so schön heißt. Nicht schön waren die Schmerzen im Hals-Nacken-Schulter-Bereich, die zudem in das linke Schulterblatt und den linken Arm ausstrahlten. Die einen Ärzte sagten Bandscheibenvorwölbung dazu, die anderen Götter in Weiß sprachen von einem Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule.

Nach diversen Therapien wie Ruhigstellung samt Halskrause, Spritzen, Tabletten, Massage, Fango, Manuelle Therapie, Wärmetherapie, Physiotherapie, Elektrotherapie, Akupressur, Periradikuläre Therapie und Reha entschied ich mich nach ein paar Monaten zu einer weiteren Schmerztherapie.

Das Schmerzzentrum lag im edlen Pöseldorf in HH. Es war eine sehr geräumige wie weitläufige Altbauwohnung mit allem Pipapo – Stuck, Parkettfußboden, Kassettentüren, Einbauten. Alles vom Feinsten.

Der ergraute Doc war etwa Mitte 50 und ca. 1,90 Meter groß, trug Dreitagebart und einen Pferdeschwanz, ein weißes, langärmeliges Fred-Perry-Poloshirt, weiße Levi’s-Jeans und weiße Birkenstock-Schuhe. Um ihn herum schwirrten drei Sirenen und ein Vogel thronte am Empfang. Oder wie heißt noch gleich das Tier aus Märchen und Sagen? Richtig, Drache. Alle vier Damen trugen hellblaue Tuniken und dazu farblich abgestimmte Hosen.

Nach der einstündigen Anamnese verschrieb mir der Doc eine Kombination aus Tramal (Opioid) und Valium, die ich eine Woche einnehmen sollte. Schon am nächsten Morgen spürte ich ein Kribbeln am linken Oberarm und sah eine erste farbliche Veränderung. In einem klaren Moment wurde mir bewusst, dass ich Schlagseite hatte und in meiner Wohnung stets die Abstände der Türrahmen falsch einschätzte und diese mit dem linken Oberarm touchierte. Immerhin so stark, dass sich ein faustgroßer Bluterguss ergab.

Eine Woche später lief ich wieder im Schmerzzentrum auf. Der Drache empfing mich mit einem hämischen Grinsen – wohl wissend, dass die Schmerzen nicht verblassten. Ich glaube, ich tat etwas, was ich zuletzt in der Vorschule tat: Ich streckte ihr die Zunge raus. Okay, ich war noch von den Medis stark benebelt, aber peinlich war’s mir schon.

Bevor der Drache sich erhob, erschien eine Sirene mit einem blonden Vogelnest auf ihrem Haupt, diesmal in bordeauxfarbener Tunika und Hose gewandet, nahm meine Hand und führte mich ins Sprechzimmer. Als der Doc meine Leidensgeschichte der vergangenen Woche hörte und meinen regenbogenfarbenen Oberarm erblickte, bat er mich, abends wiederzukommen. Er verschwand und die blonde Sirene kümmerte sich liebevoll um meinen Arm.

Am Abend stand ich wieder auf der Matte. Der Drache vom Empfang war ausgeflogen. Stattdessen nahm mich die blonde Sirene in Empfang und umarmte mich kurioserweise. Sie trug das Haar nun offen und nur ihre bordeauxfarbene Tunika – weder Hose noch Schuhe. Sie eskortierte mich in die Lounge, wie sie es nannte. Dort gab sich das ‚Who is Who’ der bequemen Sessel ein Stelldichein.

Neben einem Clubsessel im Art-Déco-Stil füllten ein Lounge Chair samt Ottoman von Charles und Ray Eames, ein Ei mit Fußhocker von Arne Jacobsen, ein LC2 Sessel von Le Corbusier und ein Ball Chair von Eero Aarnio den dunkel getäfelten und mit zig roten Friedhofskerzen dekorierten Raum. Mein Blick fiel auf einen Bubble Chair, in dem der Doc baumelte. Er winkte mir zu, ich winkte zurück. Bis mir eine innere Stimme mitteilte, dass ich doch zu ihm gehen sollte. Ich haderte, doch schließlich gehorchte ich der inneren Stimme.

Es war der Abend der offenen Haare. Denn auch der Doc hatte sich von seinem Pferdeschwanz verabschiedet und nun etwas vom Dude, von Jeff Bridges als Alt-Hippie Jeffrey Lebowski aus dem Klassiker „The Big Lebowski“ der Coen-Brüder. Er sprach, ich solle mich entspannen und Platz nehmen. Meine Wahl fiel auf den LC2 Sessel von Le Corbusier. Die blonde Sirene wählte das Ei und schaffte es sogar, darin einen Schneidersitz zu machen. Die beiden anderen Sirenen trugen ebenfalls nur bordeauxfarbene Tuniken und jeweils ein Holztablett, als sie die Szenerie betraten. Die eine setzte sich auf den Clubsessel, die andere machte es sich auf dem Lounge Chair bequem.

Langsam bekam ich Schiss und bevor ich was rausbrachte, sagte der Doc zu einer Sirene „Doobie“ und zu mir: „Alles im legalen Bereich, ich bin Arzt.“ Die Sirene zauberte eine TÜTE und ließ den Zwei-Blatt-Joint wandern. Als Nichtraucher und Jungfrau auf diesem Gebiet hustete ich mir bei meinem Zug einen Wolf. Die Erschütterungen des Hustens verschlimmerten den Schmerz im Hals-Nacken-Schulter-Bereich und weckten die mütterlichen Instinkte der blonden Sirene. Sie erhob sich aus ihrem Schneidersitz und setzte sich rittlings auf meinen Schoß. Knöpfte mein Hemd etwas auf und knetete meine Schmerzzonen, derweil ich ihre Tunika vor der Nase hatte. Während ich sie also abtastete oder besser auf Wanzen untersuchte oder doch eher umklammerte, damit sie nicht von mir runterfiel, kam eine der beiden anderen Sirenen, hielt mir die Tüte an die Lippen und ließ mich noch mal ziehen. Diesmal hatte ich mich im Griff und als Alibi weiterhin die Sirene.

Es war ein relaxtes wie lustiges Beisammensein. Aufgrund der Lachattacken aber kontraproduktiv, denn diese Vibrationen weckten permanent den Schmerz. Schließlich ließen wir den Abend ausklingen, umarmten und verabschiedeten uns, als wären wir Freunde fürs Leben. Dabei war es die Abschiedsvorstellung der Schmerztherapie. Ich wankte zum Bahnhof Dammtor und steuerte den US-Schnellbräter an, um dem Kohldampf Einhalt zu gebieten. Frisch gestärkt wanderte ich dann zu Fuß durch die Nacht in Richtung Generalsviertel in Hoheluft-West.

Als nächste Therapie stand Osteopathie auf dem Zettel und Programm, die sich endlich als schmerzlindernd herausstellte.

So viel Berauschendes zu TÜTE.




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