Da denkt man an nichts Besonderes, und
dann das: Seh ich doch ein Nummernschild, auf dem LEE prangt.
Erinnert mich glatt an meine Kindheit. Wahrscheinlich ist die Kindheit
die schönste Zeit des Lebens. Obwohl man sich ja tagtäglich aufs Neue
motivieren sollte. Denn vielleicht wird’s ja doch noch mal besser, schöner,
wilder, schräger als zu Zwergnasenzeiten. Aber auch da musste man hier und da
mit Eigentoren und unliebsamen Überraschungen rechnen. Sei es, wenn einem ein
Dartpfeil in den nackten Fuß geworfen wurde, wenn sich der Lenker eines
Klappfahrrads ohne vorherige Absprache plötzlich nach unten senkte und man
kopfüber mit einem eingesprungenen Rittberger oder wahlweise Doppelaxel auf die
Fresse flog. Oder wenn man einfach nur nachts im Flur der Großeltern stand und
nicht glauben wollte, was man da zu sehen bekam. Und das kam so.
Die Rollen der Helden waren schnell verteilt. Auf dem
heiligen Rasen waren es Netzer, Overath, Bonhof, Flohe, Heynckes und Bruns.
Neben dem Fußballplatz war es unter anderem John Wayne. Und es gab auch einen
Antihelden: Christopher LEE. Obwohl
ich mir damals all seine Dracula-Filme reinzog, hab ich ihn nicht gemocht. Hat
sich bis heute auch nicht wesentlich geändert. Vielleicht liegt es daran, dass
er mich in meinen Träumen immer heimgesucht hat. Mit seinen tiefen Augen,
dieser merkwürdigen Kinnpartie und diesem Umhang. Erfreulicherweise gab es nie
ein Happy End für Christopher Lee, da John Wayne ihn ja jede Nacht abgeknallt
hat.
Möglicherweise liegt da auch der Grundstein für die
Paranoia gegen Dinge, die im Zusammenhang mit Lee stehen. Wie Litamin, Likör
und Litschi. Keine Regeln ohne Ausnahmen. Die da wären: Liebe, Literatur und
Bruce Lee. Schweif ich ab? Yesssss. Wie jeden Sommer haben wir auch damals die
Großeltern mütterlicherseits für ein paar Tage besucht und natürlich auch dort
übernachtet. Die Eltern samt Schwester im Gästezimmer und ich durfte im
Wohnzimmer das Zweisitzersofa in Beschlag nehmen. Mit all seinen Tücken. Denn
ich hab mir jedes Mal die Birne an der Deckenleuchte – bestehend aus fünf schweren
Glaskugeln – beim Aufstehen gestoßen, die aus mir heute noch immer
unerfindlichen Gründen dermaßen tief hing, dass selbst der Pekinese meiner
Tante sich die eingedrückte Nase gestoßen hätte. Wer der Inneneinrichter war?
Keine Ahnung, wahrscheinlich das zu lange Kabel der Deckenleuchte.
Als Zwergnase neigte ich dazu, die Räumlichkeiten der
Verwandten auszukundschaften. Auch nachts. Also auch in dieser denkwürdigen
Nacht. War wieder auf dem Rückweg in mein Nachtlager, als ich eine Gestalt im
langen Umhang vor der Wohnzimmertür wahrnahm. Das Licht ging an und ich
erkannte fast meine Großmutter. Fast, denn irgendwas war anders. Irgendwas
erinnerte mich an meinen Albtraum Christopher Lee. Die Kinnpartie samt
fliehendem Kinn. Scheiße, jetzt ist es so weit. Hat sich Dracula in unsere
Familie reingebissen und Oma ist die Abgesandte, die mich jetzt vernaschen
darf? Na, Glückwunsch.
Aber so schnell gibt eine Zwergnase nicht auf. Nur was soll
ich machen, hier im Flur? Zur Rechten die Küche, eine Sackgasse. Zur Linken die
Kellertür, hinter der sich wahrscheinlich eine Gruft verbirgt, wo weitere
Familienmitglieder, die ich bis dato noch gar nicht kannte, aber gleich mit
kleinen Bissen im Hals kennenlernen werde, ihr Unwesen treiben. Im Rücken meine
Eltern samt Schwester, die ihre Hanni-und-Nanni-Geschichten träumt oder gar
lebt. Sollte ich einfach reinstürmen und sagen: Hallo, ich bin’s, euer Sohn,
war gerade schon mal hier. Übrigens, im Flur steht jemand, so groß wie ein
Kühlschrank, vor sich hinnuschelnd, sieht aus wie Oma, könnte aber auch ein
Vampir sein. Was soll ich tun? Narkolepsie vortäuschen und einfach umfallen?
Das wäre sicher ein gefundenes Fressen für Oma Dracula. Oder Oma wie eine
Fahnenstange, einen Gegner umspielen und ab ins Wohnzimmer?
Sollte ich der Erste sein, der seinen Hals mit zwei Löchern
zieren darf? Das Glückskind, das bei jedem Essen oder Kaffeeklatsch ein Glas oder
eine Tasse umwarf sowie fast alle Fensterscheiben bei Verwandten und Bekannten
unglücklicherweise zertreten und als Krönung durch eine Glastür gehen durfte.
Da war von Copperfield noch nicht die Rede, und Siggi und Roy waren auch erst
in den Startlöchern.
Scheiße rollt nach unten, wie wir wissen. Schöne Scheiße.
Und davon hatte ich früher mehr als genug am Hals und am Fuß. Immer Hans guck
in die Luft und ständig in Kaugummi oder Scheiße getreten. Ärgerlich, wenn man
Udo Lattek Advantage, Dietrich Weise Universal von Puma oder Special Turf von
Adidas trug. Dann konnte man jeden Abend mit Streichhölzern den Dreck aus den
Noppen kratzen. Schweif schon wieder ab.
Nach einer nuschelnden Schrecksekunde, die mir wie eine
Ewigkeit vorkam, verschwand Oma im Bad und kam kurze Zeit und eine Klospülung
später mit einem strahlenden Gebiss zurück. Kurzes Drücken und über den Kopf
streicheln und schon ging’s ab in die Falle mit dem obligatorischen Kopfstoß an
die tief hängende Deckenleuchte.
So viel Besonderes zu LEE.
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